Biomechanik der menschlichen Hüfte – Lehrmeinung und Hypothesen


Bevor ich beginne, gestatten Sie eine Frage: Klagt jemand über Beschwerden beim Gehen oder Hüftschmerzen oder Leistenschmerzen, wird als erstes die Frage gestellt, ob man ein künstliches Hüftgelenk hat. Der Einsatz eines künstlichen Hüftgelenkes ist so selbstverständlich geworden, dass niemand nach der Stützmuskulatur in diesem Bereich fragt. Dabei wäre das der erste Schritt, um die richtigen Maßnahmen zur Verminderung von Beschwerden einzuleiten, denn:

Die erforderliche Kraft, um uns beim Gehen, Stehen und Laufen abzustützen, erzeugen die Muskeln im Gesäß– und Oberschenkelbereich!

Welche Kraft diese Stützmuskeln besitzen, erkennt man am besten, wenn man auf einem Bein steht, denn: (so wird Pauwels in der einschlägigen Fachliteratur zitiert)

Beim Gehen und Laufen ist jedes Bein im Wechsel Standbein und Spielbein.
Die richtig funktionierende Muskulatur im Gesäß–/Oberschenkelbereich hat die ausreichende Kraft, um beim Einbeinstand richtig abzustützen und bewirkt:
Die nicht richtig funktionierende Muskulatur im Gesäß–/Oberschenkelbereich hat keine ausreichende Kraft, um beim Einbeinstand richtig abzustützen; die Folgen sind:

Bei Beschwerden wird als erstes Physiotherapie verschrieben. Dabei werden insbesondere die Muskeln trainiert, die nach der traditionellen Lehrmeinung beim Einbeinstand abstützen. Auch wenn die Patienten zu Hause üben, stellt sich der erwünschte Erfolg, besseres Gehvermögen und geringere Beschwerden, oftmals nicht ein.

Das hat folgende Ursache:

Das wird so manchen verwundern oder sogar empören, es stimmt trotzdem, die Praxis hat es gelehrt! Um diese Hypothese zu belegen, werden im folgenden die traditionelle Lehrmeinung und die von mir erarbeiteten Zusammenhänge dargestellt.
Die traditionelle Lehrmeinung besagt:
So steht es in den Büchern zur Anatomie, zur Biomechanik, zur Sportanatomie und zur Orthopädie. Stellvertretend für weitere Veröffentlichungen wird die bestehende Lehrmeinung hier anhand folgender Literatur dargestellt:

Die Lehrmeinung zum Einbeinstand und den ihn abstützenden Muskeln soll hier anhand einiger Abbildungen und Aussagen aus der Literatur verdeutlicht werden:

Abb. 1:

„Durch die Last P des Teilkörpergewichtes hat das Becken die Tendenz, um das Hüftgelenk des Standbeines zu kippen.“
Quelle: Kummer, a.a.O.

Abb. 2:

„Beim Einbeinstand wird das Becken allein durch die Abduktoren (MF) des Standbeines stabilisiert.“
Quelle: Kapandji, a.a.O.

Abb. 3:


„Beim Gehen neigen die Abduktoren das Becken zum jeweiligen Standbein und ermöglichen so das freie Vorschwingen des Spielbeines.“
Quelle: Weineck, a.a.O., Originalgrafik hier gespiegelt

Abb. 4:


„Beim Einbeinstand kontrahiert sich die Becken- und Trochantermuskulatur (Mm. glutaei medius et minimus) auf der Standseite und hebt das Becken auf der nicht unterstützten Seite bzw. hält es in nahezu horizontaler Stellung.“
Quelle: Buckup, a.a.O.


In der Schemazeichnung von Platzer sind das die blau und grün eingezeichneten Muskeln, die hier gelb umrandet sind:

Abb. 5:

Quelle: Platzer a.a.O.

Pauwels hat dafür folgende Formel entwickelt, auf die sich alle, auch international, berufen:

       Für den Einbeinstand gelten nach dem klassischen Pauwelsschen Hebelmodell
       („Balkenwaage“) unter statischen Bedingungen für die Frontalebene folgende
       Gesetzmäßigkeiten:

       Damit das Hüftgelenk im Gleichgewichtszustand ruhig verharrt, muss das über den
       etwa dreimal längeren Lastarm b wirkende Körperteilgewicht K (= Körpergewicht
       abzüglich Gewicht des Standbeines) durch die Anspannung der über den Kraftarm a
       angreifenden Abduktoren M kompensiert werden.

Mathematisch formuliert:

                                                                         M . a = K . b

       Auf Grund der bestehenden Hebelverhältnisse (kurzer Kraftarm a) muss daher M drei
       Mal so groß sein wie K. Körperteilgewicht K und Muskelkraft M können vektorgraphisch
       summiert werden:
       Als vektorielle Summe aus Körperteilgewicht K und Abduktorenkraft M entsteht die
       resultierende Gelenkskraft R (Pauwels)

zitiert nach Tschauner, a.a.O.

Als Abbildung sieht das so aus –

Abb. 6:

Quelle: Pauwels, a.a.O.

Auffallend ist, dass weder bei Pauwels noch bei einem seiner „Nachfolger“ eine Betrachtung
darüber zu finden ist, welche anderen Muskeln eventuell diese Stützfunktion ausüben könnten.
Anlass dazu gäbe es aus mindestens zwei Gründen:
Die Lösung ist ganz einfach, wie folgende Hypothese zeigt:

      Die Stützfunktion beim Einbeinstand wird durch die näher an der Wirbelsäule
      gelegenen tief liegenden Muskeln ausgeübt, denen man bislang nur die Funktion
      der Außenrotation zugeordnet hat.

© Henriette van der Wall 10.09.2004. Alle Rechte vorbehalten.

Sie sind in den beiden folgenden Abbildungen wegen der besseren Überschaubarkeit grün eingerahmt:

           
Abb. 7 Quelle der Ursprungsabbildung: Platzer, a.a.O.Abb. 8 Quelle der Ursprungsabbildung: Weineck, a.a.O
        Erläuterungen:
  • Nummer 1 = Musculus obturator internus
  • Nummer 3 = Musculus gemellus superior
  • Nummer 5 = Musculus gemellus inferior
  • Nummer 7 = Musculus quadratus femoris
  • Nummer 9 = Musculus obturator externus

Diese Muskeln werden auch als tiefliegende, ventrale oder pelvitrochantere Muskeln bezeichnet. Ich nenne sie aus Gründen der besseren Anschaulichkeit die kleinen inneren Glutaeen – kiG, ein Begriff, der im Zusammenhang mit Fachdiskussionen auch wieder geändert werden kann.

Nirgendwo in der Fachliteratur fand ich einen Abwägungsprozess darüber, ob die Muskeln, die näher an der Wirbelsäule liegen als die kleinen Gesäßmuskeln, möglicherweise für das Abstützen des Einbeinstandes wichtig sein könnten. Einige Überlegungen, die ich dazu angestellt hatte, schickte ich zum Jahreswechsel 2005/2006 an Prof. Dipl.-Ing. Dr. med. (habil.) Hartmut Witte, Institut für Mikrosystemtechnik, Mechatronik und Mechanik, Fachgebiet Biomechatronik an der Technischen Universität Ilmenau. Sein Antwortschreiben von Anfang 2006 ist hier auszugsweise wieder gegeben:

Das hatte mir damals Mut gemacht, nicht aufzugeben, denn mit anderen Fachleuten kam ich lange nicht in Kontakt. Eine wesentliche Ursache dafür scheint tatsächlich darin zu liegen, dass in Deutschland Anatomie und funktionelle Anatomie nur im Mikrobereich betrieben werden – so steht es jedenfalls in den Internet–Präsentationen der einschlägigen Universitäten und Institute. Das war und ist dem theoretischen Durchdringen der Einsichten, die sich durch Beobachten und viele Gespräche mit Betroffenen ergeben haben, nicht förderlich gewesen.

Also konzentrierte ich mich erst einmal darauf, in sozio–kulturellen Zentren Kurse anzubieten. Was die Kursteilnehmer davon haben und wie sie mit den Übungen klarkommen, kann man auf meiner Website mit den Kursangeboten nachlesen. Durch das wiederholte Beobachten und Training von Körperwahrnehmung in den Kursen der Hüft–Rücken –Knie–Gangschule wurde immer deutlicher, dass das Spannen der kleinen inneren Glutaeen einen Spannungsimpuls bei folgenden Muskeln auslöst:
Mm. glutaeus maximus, glutaeus medius, glutaeus minimus, piriformis, tensor fasciae latae, psoas major, iliacus, also bei den anderen Gesäßmuskeln sowie bei den Bein– und den Rückenmuskeln (hier nicht einzeln aufgeführt).

Das heißt, die Spannung beginnt innen in den von mir als kleine innere Glutaeen bezeichneten Muskeln und setzt sich nach außen fort. Die Spannung der außen liegenden Muskeln kann man von außen durch Tasten und Anschauen wahrnehmen, die Spannung der innen liegenden Muskeln erfordert Körpergefühl und genaues Durchdringen der biomechanischen Gegebenheiten.

Nun wurde es langsam Zeit, mal wieder zu versuchen, mit Fachleuten aus Medizin und Mechanik ins Gespräch zu kommen, um Erfahrungen auszutauschen. Das hat im Frühjahr 2010 die ersten Erfolge gebracht:
Dadurch veranlasst entstand folgende neue Hypothese über die Wirkungsweise der Muskeln beim Einbeinstand:

In dem Moment, wo ein Zweibeiner dazu ansetzt, sich nur auf einer Körperseite abzustützen, also bei der Verlagerung des Körpergewichts auf ein Bein, wird ein Reflex ausgelöst, wodurch alle Muskeln des Systems in einer solchen Weise gespannt werden, dass sie sowohl abstützen als auch die physiologisch richtige Beweglichkeit ermöglichen. Dabei wirken sie wie folgt:
Als erstes kontrahieren die tiefliegenden Muskeln – siehe Abbildung 7. Diesen folgen (gleichzeitig) alle Muskeln vom Becken an abwärts, also der Große Gesäßmuskel, die kleinen Gesäßmuskeln, der Tensor, der Quadrizeps, die ischiocruralen Muskeln, die Adduktoren, die Waden– und Schienbeinmuskeln, die Fußmuskeln sowie die Rückenmuskeln. Dabei wirken alle Muskeln durch Zug.

Das Interessante dabei ist folgendes Phänomen, dass diese Zugwirkung alle Komponenten des Becken–Bein–Stütz–Systems zueinander zieht und es damit sozusagen zusammenzurrt, wodurch aus diesem Gesamtsystem eine im Hüftgelenk minimal bewegliche Säule entsteht und der Hüftkopf während des gesamten Bewegungsbogens physiologisch richtig in die Hüftpfanne gedrückt wird. Das geschieht vermutlich im einzelnen wie folgt:

Die Kontraktion der tiefliegenden Muskeln bewirkt eine Volumenverschiebung von deren Muskelmasse. Da diese tiefliegenden Muskeln von allen Seiten von festen Körpern (Knochen, Bändern, Muskeln) umgeben sind, übt diese Muskelmasse auf jene Körper einen Druck aus, dem jene nicht ausweichen können, da sie direkt daneben liegen und alle miteinander verbunden sind. Da jede Kraft eine Gegenkraft erfordert – actio = reactio – müssten theoretisch entsprechende Gegenkräfte in den umgebenden Knochen, Bändern und Muskeln vorhanden sein oder durch die Kontraktionen der tiefliegenden Muskeln ausgelöst werden.

Es ist tatsächlich so: die knöchernen Bestandteile des Systems widerstehen auf Grund ihrer funktionell angepassten Festigkeit (vgl. Roux 1895, Kummer 1995) dem durch die tiefliegenden Muskeln auf sie ausgeübten Druck, die Bänder ebenfalls. Bei den umliegenden durch die tiefliegenden Muskeln „bedrückten“ Muskeln löst dieser Druck einen Spannungsimpuls und damit die dort erforderliche Gegenkraft aus. Diese Spannungsimpulse werden bis zu den Zehenspitzen fortgesetzt, so dass bis dorthin Kräfte und Gegenkräfte wirken.

Beim Bewegungsablauf ist das Zusammenwirken aller Komponenten vermutlich wie folgt:
  • Wenn der Körper sich gegen die Schwerkraft zum Oberen Totpunkt hin bewegt, wird innerhalb dieses Systems die Spannung der Muskeln zu– und damit die Beweglichkeit im Gelenk abnehmen, um gemeinsam das Gesamtsystem Stützbein und Becken mit Teilkörper zum Oberen Totpunkt hin zu bringen und darüber hinweg zu schwingen.
  • In dem Moment, in dem der Obere Totpunkt erreicht ist, wird die Spannung der Muskeln im Stützsystem Becken – Bein so hoch sein, dass damit auch keine Bewegung stattfinden kann, da eine Umkehr der Bewegungsrichtung mit dem Körper in Richtung Erdmittelpunkt erfolgen muss.
  • Anschließend nimmt die Beweglichkeit innerhalb des Systems bis zum Abheben des Stützbeines vom Boden wieder zu. Sie ist am höchsten, wenn durch das entgegengesetzte Stützbein der Obere Totpunkt erreicht wird.

© Henriette van der Wall, 19. April 2010. Alle Rechte vorbehalten.
Dieser Prozess der Spannungsaufnahme und –abgabe jedes Muskels sowie einzelner Muskelfaserbündel einiger Muskeln und der Veränderung der Spannungsverteilung darin im Verlauf dieses Bewegungsbogens muss näher untersucht werden.
Was spricht für diese Funktionsweise der das Hüftgelenk beim Einbeinstand stützenden Muskulatur? Auch diese Antwort ist ganz einfach:

Die spürbare Verminderung von Beschwerden beim Gehen und anderen Alltagsbewegungen bei mir und anderen Betroffenen durch die Ausführung von Übungen, die mit diesen Erkenntnissen korrespondieren.

Was folgt daraus?

Auf diesem Gebiet muss geforscht werden, denn physikalische Gesetze gelten für alle. Nur durch die richtige Therapie kann man die tatsächlichen Ursachen für Hüft–, Rücken– und Knieprobleme beheben und ein gutes Gangbild (wieder–)erlangen!



Nachbemerkung:
Wenden wir uns also den aktuellen Aufgaben zu und tragen dazu bei, dass die Forschung auf diesem Gebiet wiederbelebt wird! Sagen wir dem Operationswahn den Kampf an und tragen dazu bei, dass in absehbarer Zeit niemand mehr wegen falsch oder ungenügend trainierter Muskulatur Hüftschmerzen bekommt, sondern jede/r beizeiten lernt, dem vorzubeugen.

Interessenten und Skeptiker sind hiermit eingeladen, sich theoretisch und praktisch näher damit zu beschäftigen. Diese Darstellung zur Biomechanik der menschlichen Hüfte können Sie    hier   als pdf-Datei herunterladen.

Wenn Sie Fragen haben zu den hier aufgeworfenen Hypothesen oder auch zu anderen damit zusammenhängenden Themen oder mich einladen wollen zu einem Vortrag mit anschließender Diskussion zur Biomechanik der menschlichen Hüfte, dann wenden Sie sich bitte per   e-Mail   an mich.

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Letzte Änderung: 14.09.18